Ein Welpe schneit ins Haus
Früher Morgen am letzten Sonnabend im November. Bei der Tierheimleiterin klingelt das Handy. Die Bundespolizei. Auf der A 17 war ihnen ein winzig kleiner „Fisch“ ins Netz gegangen. Aus Müll und Colaflaschen im Autofußraum blickten die Beamten zwei dunkle Knopfaugen in Pelz gehüllt an.
Ohne Papiere, Chip und Impfung war die lange Reise für das kleine Pelztier nun erstmal beendet. Verhör, Papierkram – es wurde Mittag. Der pelztierschmuggelnde Autofahrer wurde mit Polizeibegleitung zum Windberg dirigiert. Dort wartete die Tierheim-Mannschaft gespannt. Was ist es und wie alt oder besser gesagt, jung? Die ersten Prognosen gingen in Richtung „Hund“ – irgendwas mit Schlittenhund oder Husky oder Malamute oder Eurasier oder… Beim Altersschätzen war es noch eindeutiger – sechs Wochen, acht Wochen, noch ein paar Tage mehr oder doch erst vier Wochen?
Wir werden‘s sehen, meinte die Leiterin, bestellte die Tierärztin mitsamt Impfkoffer, nahm das Hundebaby in die Quarantäne auf und gab ihm den Namen Tibor (was ungarisches). Das Baby hörte, wenn überhaupt, eher auf „Tibby“, also blieb es erstmal dabei.
Tibby hatte zumindest keine Flöhe. Dafür waren Magen und Darm durcheinander. Da er noch am Tag seines illegalen Grenzübertritts in eine Pflegefamilie kam, störte das aber nur dort. Denn Tibby war noch weit entfernt davon stubenrein zu sein. Er war auch nicht küchenrein oder badrein oder flurrein. Eigentlich gelang es ihm überall. Aber nur in den ersten Stunden. Dann war der Rhythmus gefunden. Nun ja, wenigstens überwiegend. Ein paar ausgelegte Windeln halfen beim Trockenhalten der Wohnung. Und das Auf-die-Wiese setzen, bei jedem Aufwachen, nach jedem wilden Spiel, nach den Kuschelrunden – also praktisch aller ein bis zwei Stunden. Nachts hielt er länger dicht. Und wenn man es dennoch mal verschlief, weil der Kleine gaaanz leise auf seine Windel oder auf den Teppich oder neben den Teppich gegangen war, dann ließ er sich trotzdem gern die drei Etagen runter auf die Wiese tragen und es kam auch immer noch was raus dabei.
Nach einer Woche große Aufregung. Tibby musste zum Arzt – schlimm Erbrechen und Durchfall. Blutuntersuchung und banges Warten. Tibby musste eine Nacht beim Tierarzt bleiben, am Tropf. Geschlafen hat von der Pflegefamilie trotzdem niemand. Am nächsten Tag der Rausschmiss beim Tierarzt. Tibby war putzmunter und schrie schon alles zusammen – wo seine Pflegeltern wären, wo das Essen bleibt und ob nicht jemand mit ihm kuscheln wolle. Also gings wieder heim. Erleichterung auf allen Seiten.
Der Bluttest ergab nichts. Vermutlich hatte er staubsaugerartig eine von der Nachbarskatze schon längere Zeit vergessene Beute eingenommen. Man musste immer höllisch aufpassen, was Tibby alles so fand und für essbar hielt und was überhaupt so alles rumliegt. Da war auskeimendes Vogelfutter noch das harmloseste. Die darum ausgetragenen zwei Kämpfe waren einerseits total amüsant für die Pflegeeltern – Tibby schrie und knurrte wie ein Großer, wenn man ihm die Bröckchen nicht gönnte. Andererseits waren sie das deutliche Signal für den Erziehungsbeginn. Da sich auch seine Welpenohren nach einer Woche aufrichteten, gab’s keine Ausreden mehr.
Tibby schlief natürlich noch viel, manchmal sogar ein, zwei Stunden ganz alleine. War er wach, spielte er wie wild mit Stöckchen, Korken, Bällchen und versuchsweise mit Katzen. Die Katzenseniorin im Pflegeelternhaushalt, hundeerfahren und nicht spielbedürftig, zumindest nicht mit einem Hundebaby, fauchte und spuckte einmal und genoß den Rest von Tibbys Aufenthalt seinen Respekt. Die jungen Katerbrüder nahmen das Ganze differenzierter. Rankommen lassen und dann Backpfeife oder rankommen lassen und scharfer Blick und dann Backpfeife. Tibby hatte schnell begriffen, dass die Miezies sich nur ein sehr kleines Stückchen jagen lassen und sie ansonsten Vierbeiner mit überall Krallen sind. Ihn wunderte es allerdings sichtlich, dass die Katzen immer so anscheinend freundlich mit dem Schwanz wedelten… Ja was denn nun?
Tibby nahm gut zu und wuchs und wuchs. Er wurde immer koordinierter. Er liebte Frühstück, Mittag, Abendbrot und seine Lieblingsspeise war „Essen“. Den Rest des Tages füllten Spielen, Rumtollen und Schlafen – in der Reihenfolge…
Vor den Katzen verlor er rasch die Angst. Schließlich bemühten sich beide Seiten um Verständnis – die Katzen erst, nachdem Tibby größer war als sie.
Bald kam zum kleinen Rund-ums-Haus-Radius das Autofahren dazu, vorerst in einer Box. Ganz schrecklich, diese Box, und zum Schreien (kostete die Pflegemama übrigens einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, weil sie mit Trösten abgelenkt war). Dank eines Brustgeschirrs verlor das Auto schnell seinen Schrecken. Ans Halsband hatte er sich innerhalb kürzester Zeit gewöhnt. Mit Leine gehen war dann schon wieder eher doof. Aber was half es, die Beinchen wurden schließlich immer schneller und überall diese Verlockungen – tote Äste, Mäuse, Käfer, Papiertaschentücher.
Auch Artgenossen lernte Tibby kennen. Die meisten waren größer, einer nicht. An dessen Hinterteil ließ es sich bequem schnüffeln. Vielleicht merkt er’s ja nicht.
Erschien einer der Hunderiesen, wurde die Deckung aufgesucht, hinter Menschenbeinen, möglichst vielen. Argos, ein Australian Shepherd und Freund der Pflegemama, war am geduldigsten. Er zeigte Tibby als erstes, wie und warum man das Bein hebt. Tibby saß mit offenem Mund daneben und bestaunte seinen großen Kumpel. Und dann die Rennspiele. Ganz schwindelig wurde man dabei und vor allem müde.
Große Klasse waren die Ausflüge mit den Pflegeeltern. Da ging es auf Berge, durch Wald und Schnee und Bäche – bis Tibby in irgendeinen Wassergraben gefallen war. Der Kleine war sich seiner Entfernungsberechnung so sicher und dann war dieser blöde Graben plötzlich breiter geworden, von jetzt auf gleich…
Anfang Januar 2015 zog Tibby dann um ins Tierheim. Hier hatte er jede Menge Hunde zum Spielen und noch ein paar mehr Menschen, die er durch den Wald ziehen konnte. Viele kamen ihn besuchen. Mitte Januar fiel die Entscheidung.
Tibby wurde von einer Hundedame samt verständnisvollem Menschenrudel adoptiert. TerraLynn wurde, wie ihre beiden Katzen, vom ersten Moment an erzieherisch tätig. Aus ihrer Sicht war das auch dringend nötig, soll Tibby doch einen Teil von TerraLynns Arbeit in tiergestützter Kindertherapie und -pädagogik übernehmen.
Tibby erhielt von seiner neuen Familie den Namen Argish. Im Film „So weit die Füße tragen“ ist Argish ein treuer Begleiter eines Kriegsgefangenen bei dessen Flucht durch Sibirien. Ein großes Vorbild für einen – noch – kleinen Argish.
Argish besucht mit TerraLynn, ihrer Besitzerin und den Kindern regelmäßig das Tierheim auf dem Windberg. Seine Pflegeeltern und sein gesamter Fanclub freuen sich für ihn, erleben wir nun ja, nach Argish’s etwas holprigem Start ins Leben, wie interessant und erfüllend es weitergeht…
Alles Liebe und Gute dem ganzen Rudel!